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KI-Agentensysteme

Autonom Abfragen und Recherchen durchführen

Zurzeit steht in den Debatten um die künstliche Intelligenz (KI), ausgelöst durch den Hype um ChatGPT, meist noch die generative KI mit ihren Large Language Models (LLM) im Mittelpunkt des Interesses – auch im Maschinen- und Anlagenbau. Dennoch ist abzusehen, dass diese „Einstiegstechnologie“ immer austauschbarer und damit ersetzbarer wird. Es zeichnet sich ab: Die Zukunft gehört Software-Agenten, die mit Unterstützung durch KI autonom Abfragen und Recherchen durchführen und dabei auch selbständig Entscheidungen treffen.

„Wir denken künstliche Intelligenz in drei Stufen: die erste ist die Assistenz für den Anwender, die zweite die Automation im Ablauf und die dritte der autonome Agent“, definiert Jonas Schaub, Vorstand des Industrie-4.0-Unternehmens und KI-Spezialisten Elunic AG aus München.

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 Foto: Wilo SE

KI hält Einzug in den Maschinenbau.

Wenn zum Beispiel ein Lastenheft mit verschiedenen Anforderungen eines Lieferanten geprüft werden muss, ist es mittels eines unterstützenden Systems möglich, der KI zu sagen: „Fass für das Lastenheft die 50 wichtigsten Punkte zusammen.“ Bei einer Automation wird im Vorfeld fest definiert, wie genau die Lastenheftprüfung durchgeführt werden soll: mit exaktem Ablauf, Zielland und inkl. aller regulatorischen Anforderungen usw. Schaub: „Eine Checkliste wird von der KI automatisiert abgearbeitet.“ Die dritte Stufe nimmt der Agent ein: „Man übergibt der KI das Lastenheft und sagt: ‚Führe für mich von A bis Z alle Prüfungen durch.‘ Der Agent kennt den gesamten Kontext, der vorher individuell angelegt wurde, und agiert selbständig darüber hinaus“, erläutert der Elunic-Vorstand. Dabei führt der Agent auf einer nicht regelbasierten Grundlage auch selbständig Entscheidungen durch.

Auf der Stufe einer Automation ist es z. B. bei einer Zollabwicklung noch erforderlich, der KI das aktuelle Regelwerk mit auf den Weg zu geben. Bei einem voll autonomen Agentensystem macht sich der Agent selbständig auf den Weg und recherchiert online die aktuellen Vorschriften und Regularien und bezieht sie in seine Vorschläge und Entscheidung mit ein. Es ist sogar möglich, einen Agenten zu beauftragen, mit diesem konkreten Lastenheft einen Check durchzuführen und eine Empfehlung auszusprechen, ob eine bestimmte Anlage gebaut werden kann oder auch nicht. Schaub: „Dabei kann die Antwort sowohl als ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ als auch in Form einer Liste kritischer und unkritischer Punkte ausfallen. Der Agent ist im Unterschied zu den ersten beiden Stufen dazu in der Lage, Dinge vollständig autonom durchzuführen, die er vorher nicht explizit als Anweisung erhalten hat.“

Nicht nur aus Sicherheits- und Haftungsgründen, sondern auch des Kontexts wegen sei ein Anwender jedoch gut beraten, das Ergebnis wie bei einem Werkstudenten noch einmal von einem Fachexperten prüfen zu lassen. Schaub: „Es kommt auf den zugrundeliegenden Kontext an. Je mehr Kontextwissen ein KI-Agent hat, desto fundierter sind auch seine Entscheidungen.“

KI-Anwendung Murrelektronik GmbH

Besucherinnen und Besucher des Maschinebaugipfels in Berlin konnten sich in einem ausführlichen Fachvortrag über ein umgesetztes Projekt bei der Murrelektronik GmbH kundig machen: Im Kern ging es dabei um die Realisierung eines Kundenportals, auf dem ein KI-Agent die Nutzer auf ihren Wegen durch den Cyberspace unterstützt: Bis dato musste man bei der Suche nach einem bestimmten Produkt im Vorfeld alle dafür nötigen Parameter wie Antrieb, Spannung, exakte Größe usw. kennen. Mit Unterstützung durch den KI-Agenten hat sich das Procedere nun entscheidend vereinfacht: Ein Anwender möchte beispielsweise eine Verpackungsmaschine bauen, die im Lebensmittelumfeld in einem Nullgradbereich eingesetzt werden kann. Es folgt eine Anfrage in natürlicher Sprache. Der KI-Agent übersetzt menschliche Sprache in maschinentaugliche Daten und sucht automatisch im Produktkatalog nach Produktgruppen und allen bereits realisierten Projekten, die auf die speziellen Anforderungen der Anfrage passen. Die KI hat gelernt, in Facetten zu denken und zu filtern. Das ermöglicht einen erweiterten Zugang zu dem vorhandenen großen Produktsortiment. Schaub: „Im Resultat präsentiert der KI-Agent – völlig autonom – auf die spezifischen Bedürfnisse der Anwender hin zugeschnittene Vorschläge mit allen infrage kommenden Komponenten.“

Das Projekt bei Murrelektronik ist 2024 gestartet und im Frühjahr 2025 live gegangen. Nach Angaben von Elunic gilt es bei KI-Projekten allgemein, bereits nach mehreren Wochen einen sog. „Proof of Value“ zu erstellen, durch den man sieht, ob das System auch funktioniert und in der Lage ist, das gestellte Problem zu lösen. Schaub: „Dabei starten wir nicht gleich mit 70.000 Produkten, sondern gezielt in ein kleineren Mengen und definierten Kohorten, und erweitern sukzessive die Portfoliogröße.“ Auch Rückmeldungen des Nutzers gelten für den weiteren Lernprozess der KI und die kontinuierliche Verbesserung der Trefferquote als unabdingbar. Dem KI-Spezialisten zufolge können KI-Projekte auf diese Weise sehr schnell einen Geschäftswert bilden. Schaub: „Wenn sie nicht schnell funktionieren, wird es meistens auch nach längerer Zeit nichts.“

KI und Agenten – zwei Paar Schuhe

Bei der Definition des Begriffs strikt zwischen KI und Agenten zu unterscheiden, dafür plädiert Dr. Christoph Kilger, Mitgründer und CEO des Mannheimer KI-Spezialisten Aioneers Technologies GmbH: „Das sind zwei Paar Schuhe.“

Softwareagentensysteme an sich gibt es schon seit den 1980er Jahren. KI wurde als Forschungsfeld sogar bereits Ende der 1950er Jahre definiert. In diesem Sinne sind beide Technologien an sich überhaupt nichts Neues. Ein größerer Durchbruch gelang mit neuronalen Netzen ab 2012. Bei Aioneers versteht man unter KI in erster Linie, dass Informationen auf eine bestimmte Art- und Weise, die sich flexibel an Umfeldsituationen anpasst, verarbeitet werden. Damit geht sie über einen regelbasierten, starren Algorithmus, der immer das Gleiche tut, weit hinaus. Kilger: „Mit KI erzielen wir einen Zustand, wie wir ihn als Menschen auch haben: Wir lernen und können damit den Zustand unseres Gehirns und infolgedessen unser Verhalten verändern. So ist das auch mit künstlicher Intelligenz.“

Vor diesem Hintergrund sieht der CEO und Firmenmitgründer den Begriff „KI-Agent“ als eher unglücklich an. Er gliedert sich in zwei Bestandteile: Zum einen das agentenbasierte Softwaresystem, das über autonome, Entscheidungen treffende Teilsoftwaresysteme verfügt, die miteinander in Verbindung stehen und Dinge ausführen können. Kilger: „Durch ihre Robustheit und dadurch, dass sie verteilt sind, sind sie sehr anpassungsfähig.“ Wenn diese nun an KI gekoppelt werden und damit als zweiter Bestandteil die Intelligenz ins Spiel kommt, könne man nach Auffassung des Mannheimer KI-Pioniers unter Vorbehalt auch von KI-Agentensystemen sprechen. Das Thema künstliche Intelligenz gliedert sich dann in: generative KI, Maschine Learning und andere KI-Systeme. Zwischenfazit aus Aioneers-Sicht: KI-Agenten sind Systeme, die wahrnehmen, Informationen über die Umgebung sammeln, diese Informationen verarbeiten und auch selbständig Entscheidungen treffen können. Und das mittels KI auch über lernende Verfahren.

KI-Anwendung B&R Industrie Elektronik GmbH

Auch der KI-Spezialist Aioneers hatte für den Maschinenbaugipfel mit B&R Industrieelektronik, ein zum ABB-Konzern gehörendes Unternehmen im Umfeld industrielle Steuerungen, Elektronikmontage und Flachbaugruppenbestückung, einen spannenden Praxisvortrag im Gepäck. Kilger: „Wir sind dort mit dem Thema crossfunktionale Zusammenarbeit gestartet und fanden folgendes Ausgangszenario vor: Vertrieb, Produktion, Einkauf und Logistik wollten den Durchsatz der Supply-Chain so weit wie möglich maximieren, damit Kunden ihre Waren möglichst schnell bekommen. Die verschiedenen Funktionsbereiche müssen dabei zusammenwirken, standen sich aber oft gegenseitig im Weg.“

Aioneers hat mit dem Supply-Chain-Control-Tower vor Ort zunächst ein neues System aufgebaut, das aus den operativen Systemen wie ERP-, CRM- und Planungssystem alle relevanten Daten zusammenzieht und einen digitalen Zwilling der Supply-Chain aufbaut, berichtet Kilger in seinem Gipfelvortrag. Im Resultat können heute alle Funktionsbereiche in Echtzeit auf die gleiche Situation blicken und bekommen jeweils die für sie relevanten Daten angezeigt. Mithilfe kleiner Agenten-Tools werden – heute noch rein regelbasiert – Entscheidungen vorbereitet und mögliche alternative Szenarien aufgezeigt, etwa dass die Versorgung mit kritischen Komponenten verbessert, dass der Anlauf von Neugeräten besser geplant und dass das Kapazitätsanagebot in der Produktion dynamisch an die Auftragslage angepasst wird. Kilger: „Mit dem Supply-Chain-Control-Tower haben wir ein tragfähiges Konzept erstellt, um manuelle Entscheidungsprozesse quer zu den Funktionsbereichen zu verbessern. Diese cross-funktionale Entscheidungsunterstützung werden wir nun mit KI weiter automatisieren.“

Weitere Anwendungsszenarien

Weitere konkrete Anwendungsfälle von KI-Agentensystemen im Maschinenbau sind den befragten KI-Experten zufolge die bereits von Elunic ins Feld geführten Beispiele wie Lastenhefte oder die Prüfung von Zollabwicklungen. Auch die Pflege von Stammdaten gilt als ein geeigneter Anwendungsfall. Schaub: „In ERP-Systemen stecken die Informationen häufig in nicht strukturierten Daten wie Freitext-Notizfeldern.“ Prinzipiell könne man von Wissensmanagement oder Wissensorganisation sprechen, angefangen beim Engineering und der Konstruktion über die Produktion bis zum Instandhaltungsservice. So können KI-Agenten beispielsweise einen automatisierten Bestellvorgang von Ersatzteilen im ERP-System auslösen usw. Schaub: „Mein besonderes Steckenpferd ist jedoch der Customer-Support- und Aftersales-Bereich mit seinen vielen Teildisziplinen.“

Aioneers Technologies sieht Anwendungsszenarien für agentenbasierte KI generell bei Aufgaben, mit denen sich ein hoher Autonomiegrad erreichen lässt, wie z. B. in der Qualitätskontrolle. Viele Maschinenbauer nutzen visuelle Inspektionsmaschinen, um Oberflächenfehler, Maßabweichungen und, bei Einbezug von Röntgenverfahren, auch Fehler bei Gussteilen aufzuspüren. Kilger: „Diese Dinge – bildgebundene Qualitätsprüfung, Sensormuster, Materialklassifizierung – kann man mit neuronalen Netzen extrem gut erkennen.“ Ein zweites Anwendungsfeld besteht dem Mannheimer KI-Spezialisten zufolge darin, Predictive-Maintenance-Anlagen wie Füll- und Etikettiermaschinen mit zusätzlichen Sensoren auszustatten, um auftretende Fehler zu korrigieren und die gewonnenen Informationen zur weiteren Prognose zu nutzen. Gut vorstellbar sind auch Service-Chatbots als virtuelle Assistenten für Werker in der Produktion oder gar Kunden.

Erfahrene Maschinenmeister der KI überlegen

Große Fortschritte dieser Technik sieht Kilger vor allem bei der Bilderkennung: „Die ist so gut geworden, dass ein Mensch keine Chance mehr gegen die Maschine hat.“ Auch in der Feinplanung gibt es erste Ansätze für den Einsatz agentenbasierter KI. Dort gilt es jedoch besonders aufzupassen: „Der Agent benötigt dafür ein exaktes Modell der Produktion. Das ist heute noch relativ schwierig umzusetzen. Man bekommt einfach noch nicht alle Feinheiten von Maschinen und Werkzeugen in eine Datenebene hinein, so dass sie für KI nutzbar ist“, erläutert der CEO und Mitgründer. Ein Meister, der die Maschine schon 15 Jahre kennt, ist daher einer KI heute noch um Längen voraus. Kilger: „Insbesondere dort, wo es um Feinheiten geht, die mit den Mitteln der IT noch wenig abgebildet werden können, sollte ein von der KI erstellter Produktionsfeinplan unbedingt noch einmal von einem Menschen durchgesehen werden.“

 

Die Gretchenfrage

Wer hält denn nun bei fehlerhaften KI-Entscheidungen im Schadensfall den Kopf hin? Einige Anhaltspunkte: Beim Thema Produkthaftung wird in der europäischen Gesetzgebung seit Kurzem Software als Produkt geführt. Dies beinhaltet auch bestimmte Haftungsregularien. Darüber hinaus teilt der EU AI Act KI-Lösungen in entsprechende Risikoklassen ein und legt bei Hochrisikoanwendungen entsprechende Verantwortlichkeiten fest. Per se zählt eine KI-Anwendung nicht zwingend zu einer Hochrisiko-Klasse. Aber wenn die Technik nicht so funktioniert, wie es gedacht ist, kann ein Schaden für anwendende Unternehmen auch nicht ausgeschlossen werden.

Im Maschinenbau ist noch vieles in der Forschungs- und Testphase: Frei erfundene Ergebnisse und Halluzinationen ausschließlich auf eine KI abzuwälzen, halten Branchenkenner nicht für tragbar. Handelnde Personen oder Unternehmen träfe zumindest eine Mitschuld. Am Ende steht auch beim Einsatz von KI immer der Mensch, um noch einen prüfenden Blick auf das Ergebnis seiner Promptabfrage zu werfen und letztendlich die Entscheidung zu treffen.

Beim Thema Haftung und der Frage, wer im Schadensfall welche Rolle übernimmt, wird wohl oder übel noch einiges vor Gericht entschieden werden müssen. Generell aber gilt in der Branche die Faustformel: Eine KI – egal ob generative KI oder KI-Agentensystem – ist nach wie vor als Assistenz anzusehen; der eigentlich Ausführende bleibt der Mensch. Die Anwender sind daher gut beraten, stets hellwach zu bleiben und mit KI-Vorschlägen durchaus auch kritisch umzugehen. / H.L.

Veröffentlicht in: „Produktion“

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